Migration: Minister erkennt in Arguineguín den Ernst der Lage

Der Besuch des Ministers (rechts mit Sonnenbrille im Gespräch mit Kanarenpräsident Torres) im Hafen von Arguineguín traf mit der Ankunft mehrerer Migrantenboote zusammen. So erlebte José Luis Escrivá die Überlastung der Hilfskräfte und die begrenzten Kapazitäten für die Erstbetreuung hautnah. Fotos: efe

Der Besuch des Ministers (rechts mit Sonnenbrille im Gespräch mit Kanarenpräsident Torres) im Hafen von Arguineguín traf mit der Ankunft mehrerer Migrantenboote zusammen. So erlebte José Luis Escrivá die Überlastung der Hilfskräfte und die begrenzten Kapazitäten für die Erstbetreuung hautnah. Fotos: efe

José Luis Escrivá besuchte angesichts der steigenden Zahlen nun doch die Kanarischen Inseln

Kanarische Inseln – Die Zahl der Migranten von der westafrikanischen Küste, die auf dem Seeweg die Kanarischen Inseln ansteuern, ist in den vergangenen Wochen dramatisch gestiegen. Nachrichten über neue – kleine (pateras) und große (cayucos) – Fischerboote, die an Stränden eintreffen oder schon auf See entdeckt und in die Inselhäfen geschleppt werden, sind an der Tagesordnung und erinnern an die traurige Zeit der „Cayuco-Krise“ im Jahr 2006; damals kamen mehr als 36.000 Flüchtlinge aus Afrika auf den Inseln an.
Bereits Ende vergangenen Jahres, als zwischen September und Dezember 2.085 Bootsflüchtlinge den Archipel erreichten, zeichnete sich ab, dass die Schleppermafia den Weg nach Europa wieder verstärkt über die Kanarischen Inseln einschlägt. 2020 hat sich die Lage nun zugespitzt, und während sich Städte, Regionen und Länder in Europa gegen eine zweite Corona-Welle stemmen, hat eine neue Migrantenwelle die Kanaren längst erreicht.
Es herrscht akute Unterbringungsnot; Hunderte Flüchtlinge mussten tage- bis wochenlang in einem Zeltlager des Roten Kreuzes, das im Hafen von Arguineguín (Gran Canaria) aufgebaut ist, ausharren, bis sie in andere Unterkünfte gebracht werden konnten. Andere wurden in Hotels einquartiert. Die kanarischen Behörden kritisierten die Untätigkeit der Zentralregierung in Madrid in dieser Angelegenheit. Für eine weitere Eskalation der Spannungen zwischen den Kanaren und Madrid sorgte im September der geplatzte Besuch von Migrationsminister José Luis Escrivá auf den Inseln. Der kanarische Regierungspräsident Ángel Víctor Torres hatte den Besuch des Ministers angekündigt, der jedoch kurzfristig abgesagt wurde (das Wochenblatt berichtete). Doch etwa zwei Wochen, nachdem Escrivá erklärt hatte, er werde nicht nach Arguineguín kommen, um sich fotografieren zu lassen „und die Migranten zu instrumentalisieren“, gab er dem Druck nach und flog für drei Tage auf die Inseln. Bei seinem Besuch auf Teneriffa, Gran Canaria und Fuerteventura konnte sich der Minister für Inklusion, Sozialversicherung und Migration mit eigenen Augen vom Ernst der Lage überzeugen.

José Luis Escrivá versprach, den Verantwortlichen in Madrid die Lage auf den Kanaren darzulegen.
José Luis Escrivá versprach, den Verantwortlichen in Madrid die Lage auf den Kanaren darzulegen.

Eine Portion Realität: 1.080 Migranten in 36 Stunden

Als handele es sich um den perfekten Zufall, kam ausgerechnet zeitgleich mit dem Besuch des Ministers eine besonders große Zahl Migranten an. So erreichte die Problematik, die von der Zentralregierung in Madrid seit Monaten geflissentlich ignoriert wird, wofür ihr die kanarische Regierung den Vorwurf der Passivität machte, eine neue Dynamik.
Zunächst kamen innerhalb von weniger als 24 Stunden mehr als 700 Migranten an, weitere zwölf Stunden später war die Zahl auf 1.080 gestiegen – innerhalb von 36 Stunden trafen 40 Boote ein oder wurden auf See gerettet.
Minister José Luis Escrivá besuchte nach Teneriffa in Begleitung des kanarischen Regierungschefs Ángel Víctor Torres den Hafen von Arguineguín auf Gran Canaria, wo weiterhin mehrere Hundert Ankömmlinge übergangsweise in den Zelten des Roten Kreuzes untergebracht sind. Dort werden sie auch PCR-Tests unterzogen. Im Anschluss an diese „Besichtigung“ erklärte Escrivá, dass für die Art und Weise, wie die Migranten nach ihrer Ankunft empfangen und untergebracht werden, neue Lösungen gefunden werden müssten. Er werde dies den Verantwortlichen bei der Regierung in Madrid übermitteln, so der Minister. „Wir können nicht ausschließen, dass wir auf den Kanaren eine ähnliche – vielleicht nicht ganz so komplizierte – Situation erleben, wie vor einigen Jahren, weshalb die spanische Regierung in gleichwertiger Weise darauf reagieren muss“, erklärte Escrivá weiter. Außerdem sprach er allen Helfern der beteiligten Hilfsorganisationen und speziell dem Roten Kreuz seinen Dank für ihren Einsatz aus.
Der Europaabgeordnete der Vereinigten Linken (Izquierda Unida, IU), Manuel Pineda, der das Zeltlager in Arguineguín einen Tag später ebenfalls besuchte, bezeichnete die Behandlung der Migranten dort als „entwürdigend“. Die Menschen würden dort, trotz aller Bemühungen des Roten Kreuzes und der Solidarität der kanarischen Bevölkerung „wie Vieh geparkt“.
Bei einer anschließenden Besprechung im Cabildo von Gran Canaria versicherte José Luis Escrivá dem kanarischen Präsidenten gegenüber, dass er die Bemühungen um die Schaffung eines „dauerhaften Netzes eigener Ressourcen“ für die Aufnahme von Migranten verstärken werde und verwies darauf, dass seit Januar bereits 26 neue Aufnahmeeinrichtungen geschaffen wurden. Noch vor einem Jahr, im Oktober 2019, hätten auf den Kanaren weniger als Hundert Plätze für Migranten zur Verfügung gestanden; heute liege die Kapazität der Notunterkünfte bei 3.456, versicherte Escrivá.

„Affront“ auf Fuerteventura

Als dritte Insel stand Fuerteventura auf dem Programm des Kanarenbesuchs von Minister Escrivá. Dort traf er sich im Sitz der Inselverwaltung mit Cabildo-Präsident Blas Acosta, der ihm die Lage auf seiner Insel schilderte und nicht mit Kritik sparte. Unter anderem beschwerte sich Acosta bei seinem Parteikollegen darüber, dass er es abgelehnt hatte, sich auf Fuerteventura mit Vertretern der Hilfsorganisationen zu treffen, die sich um die Erstversorgung der ankommenden Migranten kümmern. Acosta kritisierte im Anschluss an das Treffen, dass der Minister die Besprechung im Plenarsaal verlassen habe, ohne jegliche Lösungsvorschläge oder -angebote. Es sei eine Unverschämtheit gewesen, wie der Minister einfach aufgestanden sei und die Besprechung für beendet erklärt habe.
Kritik kam auch vom Abgeordneten der Partei Grupo Nacionalista Canario und ehemaligen Cabildo-Präsidenten (2003-2015), Mario Cabrera, der erklärte, dass der Minister bei seinem Kanarenbesuch lediglich das Offensichtliche wiederholt und keine einzige Antwort mitgebracht habe. Die Erwartungen an den Migrationsminister bezüglich Lösungsansätzen für den Kampf gegen die Mafia der Migrantenschlepper oder die Unterbringung der Flüchtlinge wurden enttäuscht. „Alles was Escrivá gesagt hat, wissen wir hier seit 20 Jahren, denn für uns ist dies kein neues Phänomen“, sagte Cabrera und erklärte weiter: „Nach dem monatelangen Anstieg der Flüchtlingszahlen, während dessen der Minister keine Zeit für einen Besuch fand, um sich für die Lage auf den Inseln zu interessieren, ist er nun nach Gran Canaria gekommen, um sich zu rechtfertigen.“

Gemeinsame Aufgabe

Kanarenpräsident Torres hat nach dem Besuch von Minister Escrivá nun gefordert, dass auch Verteidigungsministerin Margarita Robles und Innenminister Fernando Grande-Marlaska die Inseln besuchen, um sich ein Bild vom Ausmaß des Problems zu machen. Immerhin kommen nach Aussage des Präsidenten derzeit 70 bis 80% aller Bootsflüchtlinge, die Spanien erreichen, über die Kanaren an. Torres äußerte sich zuversichtlich, dass José Luis Escrivá bei seinem Besuch erkannt habe, dass die Koordinierung der Ministerien in dieser wichtigen Angelegenheit verbessert werden muss.

Verhandlungen über Rückführungen

Unterdessen hat die Ministerin für Territorialpolitik, Carolina Darias, die dieser Tage ebenfalls die Inseln besuchte, die Notwendigkeit der Rückführungen angesprochen. Diese seien durch die Pandemie gestoppt worden. Innenminister Fernando Grande-Marlaska bemühe sich derzeit in Verhandlungen mit verschiedenen afrikanischen Ländern um eine Reaktivierung der Rückführungen, und sie hoffe, dass „in kurzer Zeit“ Ergebnisse vorliegen.

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