Wandern und Entdecken

Wandern MvL Las Rozas

Wandern MvL Las Rozas

Mega-Erdrutsche mit Folgen

Ob wirklich alles mit allem zusammenhängt, wer weiß? Hier ist jedenfalls nicht der Platz, dies zu erörtern. Tatsächlich hängt auf den Kanaren aber Einiges miteinander zusammen, was sich nicht von allein dem Betrachter erschließt.
Malerisch schmiegen sich die wenigen Häuser von Bejía in der Mittagssonne an die steilen Flanken des Barranco Seco im Anaga-Gebirge. Der Weiler markiert das Ende einer kleinen Seitenstraße. Ohne Bar verweilt man hier nicht länger. Die Hauptstraße führt nach Los Batanes. Das Dorf liegt jenseits des Rückens, der dieses Tal vom benachbarten Barranco del Río trennt. Ein Fußweg verbindet beide Orte. Auf ihm bin ich nicht unterwegs, sondern hinab nach Punta del Hidalgo. Früher nahm ich dazu den Weg über den ehemaligen Wasserkanal. Aber seit große amtliche Schilder dessen Benutzung bei Strafe verbieten, nehme ich lieber den Weg über den jüngsten Vulkan der Anaga-Region, den Volcán de las Rozas. Selbst wenn die Chance, erwischt zu werden, relativ gering erscheint, sind die verhängten Bußen kein Taschengeld, und außerdem – und mir wichtiger – möchte ich als erkennbarer Ausländer die Einheimischen nicht verärgern.
Bis zum Aufstieg auf den Vulkan verläuft der Weg weitgehend hangparallel, und wenn man wie ich schon den langen Weg von Las Canteras bis hierher gelaufen ist, genießt man das entspannte Gehen in der Horizontalen und im gelegentlichen Schatten. Der Weg hinauf auf den Aschekegel und vor allem der lange Abstieg von dort hinab nach Punta del Hidalgo werden noch anstrengend genug.

Wandern MvL Las Rozas
Wandern MvL Las Rozas

Entlang des Weges wuchern Brombeerranken. Die Art ist endemisch, kommt nur auf unseren Inseln vor. Die reifen Beeren erscheinen mir wenig verlockend. Sie sind kleiner, fester und weniger saftig als die Brombeeren vom Kontinent. Daneben und dazwischen gedeihen weitere Endemiten, Aeonien vor allem. Wo es buschiger, schattiger und etwas feuchter ist, schlängeln sich lange Stängel des Bicácaro, der Kanarischen Glockenblume, durch das Gesträuch. Während der Blütezeit in der ersten Jahreshälfte sind sie leicht an ihren großen roten Glocken erkennbar und ein beliebtes Fotomotiv. Aber im August muss man ihre grünen Laubblätter kennen oder ihre orangegelben, mehrere Zentimeter großen Früchte entdecken. Sie sind wohlschmeckend und eine willkommene Abwechslung unterwegs.
Molekularbiologen haben vor einigen Jahren herausgefunden, dass sich die Bicácaros des Anaga-Gebirges im Osten Teneriffas genetisch so stark von denen des Teno-Gebirges im Westen der Insel unterscheiden, dass man von zwei getrennten Linien innerhalb dieser Art sprechen muss. Sie fanden ebenfalls heraus, dass Glockenblumen vor etwa einer Million Jahren die Kanarischen Inseln, von Afrika kommend, erreicht hatten, und zwar auf Teneriffa. Die Trennung in zwei Linien fand vor 800.000 Jahren statt. Danach breitete sich die östliche Gruppe nach Gran Canaria aus und die westliche auf die drei kleineren Inseln im Westen Teneriffas. So weit, so klar. Aber wie kam es zu der Trennung in zwei Linien? Immerhin fand dieses Ereignis erst mehr als 200.000 Jahre nach Ankunft der schönen Blumen auf der Insel statt.
Hier kommt die Geologie ins Spiel. Vor 800.000 Jahren ereignete sich auf der Nordseite der Insel in der Gegend zwischen den heutigen Städten Tacoronte und La Orotava eine kaum vorstellbare Naturkatastrophe. Das Land kollabierte unter seinem eigenen Gewicht und stürzte in wenigen Augenblicken ins Meer. Zurück blieb ein mehr als 40 km breiter verwüsteter Streifen ohne jedes Leben vom Meer bis zu den Höhen des Inselrückens. Zwei geologische Folgen schlossen sich an: 1. In der betroffenen Region setzte eine verstärkte vulkanische Aktivität ein und schickte während mehrerer Jahrhunderttausende dicke, lebensfeindliche Lavaströme von den Höhen zur Küste. 2. Nach geologischem Maßstab zeitnah wiederholte sich dieses Ereignis auf der gegenüberliegenden Südseite der Insel. Bei diesem Flankenkollaps entstand das Tal von Güímar. Es ist heute noch zu sehen. Das nördliche Gegenstück, das nach seinem ehemaligen Hauptvulkan als Micheque-Tal bezeichnet wird, ist hingegen von den Lavamassen praktisch vollständig wieder aufgefüllt worden. Damals aber, kurz nach den beiden Katastrophen, zog sich ein unbelebtes, an seiner schmalsten Stelle rund 10 km breites Schuttband von der Nord- zur Südküste quer über die Insel und unterband jegliche Kontakte zwischen den beiden unversehens voneinander getrennten Glockenblumen-Gruppen. Dieser Zustand dauerte rund 300.000 Jahre an, genug Zeit für die Entstehung zweier getrennter Linien.
Vor 500.000 Jahren ließ die vulkanische Aktivität dort wieder nach. Seitdem verwitterten die ehemals lebensfeindlichen Lavaströme zu besonders mineralreicher und fruchtbarer Erde. Die Micheque, ehemals ein großer Schichtvulkan wie der Pico del Teide und sicherlich auch seinerzeit von imposantem Aussehen, wurde dadurch zu einem unbedeutend wirkenden Hügelchen oberhalb von Santa Úrsula abgetragen. Mit fortschreitender Bodenbildung kehrten Pflanzen und Tiere in die Gegend zurück.

Wandern MvL Las Rozas
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Lorbeerwälder breiteten sich wieder von Osten und Westen kommend auf ihrer Höhen- und Klimastufe aus, und in ihrem Gefolge auch die Glockenblume. Ihre beiden Linien vermischten sich nicht mehr – ein geologisches Ereignis als Auslöser eines Entwicklungsschubes in der Pflanzenwelt.
Noch etwas hängt mit dem Kollaps zusammen: In der Nähe Tacorontes bekamen Augustinermönche bald nach der Gründung der Stadt La Laguna Land zugeteilt, um dort Wein anzubauen. Aus der Produktion von Messwein entwickelte sich rasch ein blühender Wirtschaftszweig. Wegen seines tiefgründigen, gut verwitterten fruchtbaren Bodens ist Tacoronte-Acentejo das älteste Weinbau-Gebiet der Insel. Und wenn sich nach der Wanderung am Abend meine Beine erholen, werde ich mich mit einem guten Tropfen von dort belohnen.
Michael von Levetzow
Tenerife on Top

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