Wandern und Entdecken

© Michael von Levetzow

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Hannah war schon dort – Basti auch

Es gibt Verbindendes und Trennendes. Zu Letzterem gehören auf unseren Inseln bestimmt die zahlreichen und oftmals tiefen Schluchten. Kein Wunder, dass man sie in alten Zeiten gerne als Grenzen zwischen Ortschaften oder Gemarkungen nutzte. Das gilt beispielsweise für den beeindruckenden Barranco de Ruiz zwischen Los Realejos und San Juan de la Rambla im Norden Teneriffas, aber auch für die Grenzen der Gemeinde Fasnia im Süden der Insel. Dort begrenzt der für Wanderer größtenteils unzugängliche Barranco de Herques das Gemeindegebiet nach Osten, wo sich Güímar anschließt, während der für Besucher besser geeignete Barranco de la Linde die Westgrenze bildet. „Linde“ ist neben „frontera“, „limite“ und „margen“ eines der Worte, mit denen man im Spanischen eine Grenze bezeichnen kann. Die „Grenzschlucht“ mündet bei der Playa von Las Eras ins Meer und trennt dort den Ort in einen Teil, der zu Fasnia gehört, von dem anderen Teil, der sich auf dem Gebiet der Gemeinde Arico befindet. An ihrer Mündung kann man die Schlucht auch am leichtesten betreten.
Große Barrancos ziehen sich von der Küste bis weit hinauf ins Gebirge. Dabei erreichen sie leicht Längen von mehr als 10 km. Entlang dieser Strecke nehmen sie kürzere Seitenschluchten auf. Gewöhnlich entstehen sie im Tal zwischen zwei Lavaströmen, wo sich bei stärkerem Regen das Wasser sammelt und zur Küste fließt. Dort nagt beständig das Meer an der Insel und drängt diese zurück. Dabei entsteht eine Steilküste. Je steiler ein Gefälle ist und je mehr Wasser dort hinabfließt, desto schneller und tiefer graben sich Schluchten in das Land ein. Deswegen wachsen Barrancos in der Regel von der Küste ins Gebirge. Sie werden umso schneller ausgegraben, je weicher das anstehende Material ist. Wo die Wassermassen auf harten Untergrund treffen, bilden sich meerseitig Steilstufen, die auf unserer Insel gelegentlich bis zu einhundert Metern Höhe erreichen. Davon ist der Barranco de la Linde in seinem unteren Teil aber weit entfernt. Seine ersten anderthalb Kilometer verlaufen überwiegend sanft ansteigend, bis eine etwa fünf Meter hohe, vom Wasser glatt gewaschene Stufe allen, die keine Erfahrungen im Felsklettern haben, die Umkehr nahelegt. Das tut dem Erlebnis aber keinen Abbruch. Hier gibt es keinen angelegten Weg und auch keine Markierungen. Man geht auf eigenes Risiko auf Trittspuren und Trampelpfaden. Zwischen den überwiegend steilen Seitenwänden läuft man keine Gefahr, sich zu verirren. Etwas aufpassen, um die günstigste Spur zu finden, muss man schon.

© Michael von Levetzow
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Vor allem in Ortsnähe, bis man die Autobahn in einem Tunnel bequem unterquert hat, liegt hier und da etwas Müll herum, Dinge die mit Absicht oder versehentlich von oben, wo Häuser bis nah an die Felskante gebaut wurden, heruntergefallen sind. Jenseits des Tunnels betreten wir eine besondere Welt. Der Barranco de la Linde ist wegen seines besonderen Wertes für die Wissenschaft ein Naturschutzgebiet. Das liegt einerseits an der besonders gut ausgeprägten ortstypischen Vegetation und andererseits an leicht erkennbaren geologischen Besonderheiten, die in dieser Form nur selten im Süden der Insel anzutreffen sind. Wir finden hier einen dichten Bewuchs von an trockenes Halbwüstenklima angepassten Sträuchern: Süße und bittere Wolfsmilch, die um diese Jahreszeit weitgehend blattlos stehen, weil sie mit ihren bis zu 80 cm langen Wurzeln nicht bis an die wasserführenden Schichten im Boden heranreichen können, und dem Betrachter wie tot erscheinen. Das täuscht; denn sie werfen ihre Blätter bei Tro-ckenheit ab, um nicht unter der sengenden Sommersonne zu verbrennen. Erst mit genügend ergiebigen Niederschlägen treiben sie im Winter neues Laub. Der Cardón, auch als kanarische Säulenwolfsmilch bekannt, hat nie Blätter, aber dafür grüne Stämme, in denen er Wasser speichert. Auch seine Wurzeln sind im Sommer zu kurz. Alle drei Wolfsmilcharten siedeln vorzugsweise auf Schuttflächen an den Schluchträndern, wo der Boden nur nach einem Regen feucht ist. Wer genau hinschaut, kann dort immer wieder sehr große Büsche der süßen Wolfsmilch (Tabaiba) entdecken. Ihre rötliche Rinde macht sie hier unverwechselbar. Sie sind schon sehr alt, wahrscheinlich deutlich mehr als einhundert Jahre, aber das hat noch niemand genau untersucht.

© Michael von Levetzow
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Vor allem mehr in der Mitte des Schluchtbetts sind die grünen fädigen Blätter des Balo-strauchs unübersehbar. Balo ist immergrün; seine Wurzeln können mehr als zehn Meter in die Tiefe reichen. Wo er wächst, gibt es in der Tiefe keinen Wassermangel. So trocken das Umfeld erscheinen mag, unter dem Schutt gibt es hier genug Wasser. Aber nur der Balo erreicht es.
Die geologischen Besonderheiten des Barrancos begegnen uns am auffälligsten in Form großer, unregelmäßig geformter Basaltsäulen, aus denen sich große Teile der Wände aufbauen. Im Lehrbuch zeigen Basaltsäulen einen sechseckigen und deutlich schmaleren Querschnitt. Säulen wie diese bilden sich dann, wenn ein Basaltstrom rasch abkühlt. Dann reicht die Zeit nicht für die Ausbildung von Sechsecken. Entlang der Mitte solcher Säulenwände verläuft eine deutlich erkennbare Störungslinie. Denn ein Lavastrom kühlt sich von oben und von unten gleichermaßen ab, aber die Schrumpfungsrisse beider Seiten wachsen unabhängig voneinander zur Mitte, wo sie sich nicht exakt treffen. Das macht die Störungslinie.
Man sollte annehmen, an diesen in wenig bekannten Ort verirrten sich nur eingeweihte Naturliebhaber. Weit gefehlt. Die breiten Steinsäulen dienen manchen Zeitgenossen als Schreib- und Zeichenfläche. Nicht nur Hannah war mit Basti dort, auch Adriana und Jaco und viele andere. Nach Jahren sieht deren Hinterlassenschaft noch wie neu aus. Fels vergisst nichts so leicht. Seine Namen fett ins Gestein zu ritzen, mag die Paarbindung ein Weilchen stärken. Das könnte etwas Verbindendes sein. Aber in einem Naturschutzgebiet? Für mich bleibt das Vandalismus – und der trennt.
Michael von Levetzow
Tenerife on Top

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