Wandern und Entdecken

© Michael von Levetzow

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Kein Königsweg

Welches ist der typischste kanarische Baum? … Der Drachenbaum? … oder? Zugegeben, die Frage ist nicht ganz fair; denn: Was ist typisch kanarisch? Aus der Sicht von Tourismusexperten dürfte der berühmte Drachenbaum von Icod de los Vinos den Titel verdienen. Zumindest lässt sich dieser Baum gut vermarkten. Botaniker sehen das anders. Denn es gibt auch in Marokko wild wachsende Drachenbäume. Betrachten wir neben der regionalen Exklusivität auch die besonderen Lebensumstände, denen sich Pflanzen auf unseren Inseln ausgesetzt sehen, unterscheidet sich der Drago nicht wesentlich von den meisten hier vorkommenden Pflanzen. Seiner Natur nach ist er auf bestimmte Standorte in der Klimazone des wärmeliebenden Buschwaldes angewiesen, kommt also zwischen 100 m und 600 m über dem Meer vor. Der wahre botanische Titelanwärter ist die Kanarische Kiefer, und das nicht nur, weil sie in allen Klimazonen von der Küstennähe bis zu den Kämmen des Hochgebirges gedeihen kann, sondern weil sie wesentlich besser auch mit den Folgen von Vulkanausbrüchen zurechtkommt als Drago und Co. Vulkanausbrüche einschließlich der von ihnen verursachten Waldbrände sind typisch kanarisch und bestimmen die Lebensverhältnisse auf den Inseln. Ausgewachsene Kiefern sind feuerresis-tent, Drachenbäume nicht. Dass dennoch nicht nur Kiefern die Inseln bewalden, liegt daran, dass sie in den meisten Klimazonen der Inseln nicht ganz so gut an die Verhältnisse angepasst sind, wie die örtlichen Spezialisten. Nur in den Hochlagen, weit weg von Küs-ten und heißen Klimagürteln, haben sie keine natürlichen Konkurrenten. Dank der ausgedehnten Kiefernwälder sind sie die mit Abstand häufigste Baumart der Kanaren. Von Natur aus kommen sie nur hier vor – weltweit.
Icod de los Vinos bietet mehr als den Drago millenario. Nirgendwo sonst außer im benachbarten La Guancha hat man einen solch guten Blick von unten auf den Pico del Teide. Und nirgendwo sonst als im Bereich dieser beiden Städte reichen die Kiefernwälder so weit hinunter. Der Wanderweg PR-42 durchquert dieses interessante Gebiet von La Guancha bis La Montañeta. Die Busverbindungen zwischen Start und Ziel sind leider etwas ungünstig, sodass man sich besser auf Teilstücke beschränkt und dort mithilfe einer Landkarte eigene Rundwege sucht oder zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Ein solcher Teilabschnitt berührt das Gebiet der aktuell geschlossenen Cueva del Viento. Hier bietet sich eine besondere Gelegenheit, Verbindungen zwischen Landschaftsgeschichte und lokaler Kulturgeschichte kennenzulernen. Der Parkplatz beim Informationszentrum der Höhle ist unser Ausgangspunkt. Von dort geht es zunächst auf der Straße weiter aufwärts, bis wir die letzten Häuser passiert und den Waldrand erreicht haben. Die Straße geht hier in einen alten gepflasterten Weg über, der uns bergauf zum TF-42 bringt, dem wir dann in Richtung La Guancha folgen.
Es lohnt sich, hier die Umgebung genauer zu betrachten. Rechter Hand erhebt sich ein teilweise durch Äcker terrassierter Bergrücken. Wo keine Äcker sind, wächst auf ihm ein schöner Kiefernwald. Linker Hand erstreckt sich eine ebenfalls terrassierte schiefe Ebene, auf der nur vereinzelte Kiefern wachsen, obwohl dort erkennbar schon lange nichts mehr angebaut wird. Dahinter, in knapp 200 m Entfernung, erhebt sich der nächste Bergrücken. Auch er trägt Kiefernwald. Hier auf etwa 700 m Höhe über dem Meer, in der Übergangszone vom wärmeliebenden Buschwald zum Lorbeerwald, sollte sich Letzterer eigentlich einige Hundert Höhenmeter hangaufwärts hinziehen. Am Klima kann seine Abwesenheit nicht liegen; denn hier stoßen die Wolken oft genug gegen die Hänge und bescheren den wenigen Bauern gute Bedingungen für ihre Kartoffeln. Es liegt am Boden. Die steilen Böschungen der Bergrücken sind stark zerklüftete Ströme erkalteter Blocklava. Sie trat vor 6000 Jahren aus einem Seitenvulkan des mächtigen Pico Viejo aus, der bei guter Sicht breit über dem Gebiet thront. Dabei wurden wesentlich ältere Laven mit sehr glatter Oberfläche überschichtet, die vor rund 27.000 Jahren aus dem Pico Viejo geflossen waren. Teile dieser Lava treten hier zwischen den beiden bewaldeten Bergrücken zutage. Recht bald schon bildet sie Teile der alten Pflasterung unseres Weges. Seine Erbauer haben ihn mit Bedacht über die glatte Lava geführt; denn auf Blocklava ist Wegebau viel schwieriger. Dass auf der Blocklava Kiefern weit entfernt von ihrem Hauptverbreitungsgebiet wachsen, liegt an der Wasserdurchlässigkeit dieser Landschaftselemente. Sie speichern kein Wasser. Nur Kiefern können Pfahlwurzeln ausbilden, die weit genug hinunter reichen, und erlangen dadurch einen Vorteil gegenüber den Baumarten, die man normalerweise in diesem Klima findet, die aber weder so lange Wurzeln besitzen noch in anderem Klima gedeihen können. Auf der zwischen den Bergrücken liegenden schiefen Ebene ist die Lava überwiegend zu kompakt für das Eindringen von Wurzeln. Deswegen mussten früher die Bauern den Ackerboden bei der Anlage der Terrassenfelder von anderen Orten herbeischaffen.

Unser gepflasterter Weg wird wegen seiner Breite – zwei beladene Maultiere konnten dort einander passieren – als Camino Real, als Weg des Königs, bezeichnet. Aber nicht alles, was dieses Maß aufweist und gepflastert ist, ist ein Camino Real. Caminos Reales waren immer und vor allem Handelswege, die Ortschaften miteinander verbanden. Dieser hier endet weiter oben im Nirgendwo. Dennoch war seine Pflasterung wichtig. Er diente zum Holztransport. Die damals mächtigeren Kiefernstämme mussten von Ochsengespannen, den seinerzeitigen Schwertransportern, gezogen werden; daher die Breite. Kurz nach der Unterwerfung der Insel wurde viel Bauholz gebraucht, nicht nur in Icod, wo noch einige sehenswerte alte Kirchen und Paläste daran erinnern, sondern vor allem an der Playa de San Marcos. Dort befand sich wegen des natürlichen Sandes eine der wenigen Stellen der Insel, an denen man Schiffe an Land ziehen und überholen konnte. Der Verlauf dieses Weges zur Küste ist im heutigen Straßenbild noch teilweise erkennbar: Je steiler und direkter ihr Verlauf, desto leichter ließen sich die Stämme hinabbringen. „Arrastradero“ nannte man diese Ochsenwege.
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Michael von Levetzow
Tenerife on Top

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